Historisches

ME/CFS kann vereinzelt oder, wie häufig im vorigen Jahrhundert bis in die 1980 Jahre, in epidemischen Clustern auftreten. Die Erkrankung ist trotzdem heute weithin unbekannt, leider auch bei den Ärzten, aber sie ist keineswegs neu. Der Name Myalgische Enzephalomyelitis (ME), ab den 80er Jahren auch als Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) bezeichnet, wurde von dem leitenden Arzt des Royal Free Hospitals in London, Dr. Melvin Ramsey, schon 1959 detailliert und in standardisierter Form beschrieben, nachdem es dort vier Jahre zuvor, im Sommer 1955, zu einem epidemischen Ausbruch der Krankheit kam.1
Damals erkrankten 292 Ärzte und Krankenschwestern an einer nicht bekannten, „seltsamen“ Erkrankung, welche durch anhaltende Muskelschwäche und neurologische Symptome geprägt war.2 Als Nachweis für die neurologische Verursachung berichtete Dr. Ramsey 1965 im Britisch Medical Journal u.a. auf einem Kongress in Österreich interessanterweise einem versierten Freiburger Arzt, Dr. Frisch, begegnet zu sein, der ihm beeindruckende Abbildungen (photographs) seiner Patienten mit schweren neurologischen Schäden zeigte.3

Darüber hinaus sind bereits seit mindestens 200 Jahren mehrere Beschreibungen von Krankheiten bekannt, die denen von ME/CFS ähneln. Z.B. wurde von George Miller Beard eine Krankheit mit Symptomen wie Kopfschmerz, Müdigkeit und Neuralgie beschrieben, für die er den Begriff „Neurasthenie“ prägte, der bis weit ins 20. Jahrhundert populär blieb. Neurasthenie wurde allerdings, für eine große Zahl der Betroffenen sicher unzutreffend, als psychiatrisache Erkrankung klassifiziert, weil keine medizinischen Anomalien festgestellt werden konnten.4

Vor immerhin schon 90 Jahren wurde der erste epidemische Ausbruch am Los Angeles County General Hospital dokumentiert. Dort erkrankten zwischen Mai 1934 und Dezember 1935 198 Mitarbeiter*innen an einer akut auftretenden neurologischen Krankheit mit Symptomen wie Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Übelkeit, Empfindungsstörungen, steifer Nacken und Rücken, lokalisierte Muskelschwäche, Müdigkeit bei geringsten Anstrengungen, Konzentrationsverlust, Gedächtnislücken sowie Schlafstörungen. 75 % der Erkrankten waren Frauen, die meisten jünger als 30 Jahre alt. 55% des Personals war noch sechs Monate nach dem Höhepunkt der Epidemie dienstunfähig.5
Weil ME damals überwiegend epidemisch auftrat, ging man ganz selbstverständlich von einer infektiösen Krankheit aus, auch wenn der verursachende Erreger nicht gefunden wurde.6 In den Jahren 1934 bis 1990 sind 63 Epidemien und größere Clusterausbrüche gezählt worden. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich um einiges höher.7 Zu den bekanntesten zählen neben dem Ausbruch am Roylal Free Hospital 1955 der Ausbruch in Punta Gorda 1956 und am Lake Tahoe 1984.

Wie schon beim Massenausbruch am L.A. County Hospital wurde auch beim Ausbruch am Lake Tahoe die Krankheit vermehrt unter Frauen festgestellt. Dies leistete offenbar der immer stärker auftretenden Psychopathologisierung und Verleugnung von Myalgischer Enzephalomyelitis Vorschub, wie sie in Anfängen auch schon 1934 am L. A. County Hospital zu beobachten waren, wo „mehrere der betroffene Krankenschwestern wie hysterische Patientinnen behandelt und - wie damals nicht unüblich - einer Hysterektomie unterzogen wurden.“8
Immer wieder wurde auch versucht, das epidemische Auftreten von ME/CFS mit einer „Massenhysterie“ zu erklären oder als psychisches oder psychosomatisches Symptom einer Depression oder anderer psychischer Krankheitsbilder zu erklären, so z.B. am Lake Tahoe als „Yuppi flu“, der Grippe der jungen überambitionierten Generation mit zu hohen Erwartungen.9 Den traurigen Gipfel der Herabwürdigung und Diskreditierung der Patientinnen (aber auch der Patienten) erreicht Stephan Strauss, ein von den lokalen Hausärzten vom Lake Tahoe hinzugezogener Virologe, indem er den epidemisch auftretenden Erschöpfungszustand als „Erkrankung der depressiven, meno-pausalen Frauen“ bezeichnete.

Entgegen solchen unsäglichen Entwürdigungen wurden allerdings bei jahrelangen systematischen Untersuchungen von 259 Erkrankten der Lake Tahoe Epidemie schwerwiegende organische Befunde festgestellt. MRT-Untersuchungen und Phänotypisierungsstudien deuten darauf hin, dass die Patientinnen an einem chronischen, immunologisch vermittelten Entzündungsprozess des zentralen Nervensystems litten,10 mit Hirn-Scans ähnlich denen von AIDS-Patienten.11

Obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ME/CFS schon 1969 mit dem Namen Myalgische Enzephalomyelitis eindeutig als neurologische Erkrankung (G93.3) eingeordnet hatte, war die US-Gesundheitsbehörde (Centers of Desease Control and Prevention, abgekürzt CDC) nicht bereit, diese Diagnose anzuwenden, sondern krönte ihre leider von Beginn an betriebene Verleugnung von ME 1988 mit der sogenannten Holmes-Definition.12 Es war die erste „CFS“-Definition und entsprechend lag der Fokus auf der Fatigue, also der Müdigkeit bzw. Erschöpfung - ein Symptom, das gar nicht zwangsläufig mit ME verbunden sein muss. Dies tat die CDC allerdings unter Missachtung des Leitsymptoms der Erkrankung, also der Belastungsintoleranz mit der Verschlimmerung des Krankheitszustandes schon bei geringer, individuell unterschiedlicher physischer oder mentaler Aktivität bzw. Überschreitung der Belastungsgrenze mit einer oft 24-48-stündigen Zeitverschiebung - was auch als Post-Exertionelle Malaise (PEM) bekannt ist.

Die Holmes-Definition markiert die erfolgreiche Vollziehung eines Paradigmenwechsels von einer mit Muskelschmerzen verbundenen, neurologischen Erkrankung des Gehirns und des Rückenmarks (altgriechisch: Myalgische Enzephalomyelitis) zur Fatigue als zentralem Symptom, das allerdings unspezifisch in Verbindung mit verschiedenen Krankheiten, wie z.B. Krebs, Multiple Sklerose, Rheuma u.a. auftreten kann und als einfache Müdigkeit und Erschöpfbarkeit die Schwere von ME/CFS und ihre komplexe Symptomatik nicht erfasst, sondern sie bagatellisiert und verharmlost.13

Die damit einhergehende Psychopathologisierung mündet bis heute in der Stigmatisierung Betroffener als Simulanten oder als Depressive oder generell psychisch oder psychosomatisch Belastete und blockiert damit die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung der Krankheit und damit die Erforschung ihrer körperlichen, vermutlich neuroimmunologischen Ursachen.

Außerdem besteht durch das Aufweichen der diagnostischen Schärfe die Gefahr, in der Forschung falsche Kohorten zu bilden, weil das Kardinalsymptom, die Post-Exertionelle Malaise (PEM), also die Belastungsintoleranz nicht zwingend ist und durch unabsehbar viele Nicht-ME/CFS-Kranke in den untersuchten Patientengruppen die Ergebnisse unbrauchbar werden oder sogar den ME/CFS-Erkrankten schaden können. (siehe auch: PACE-Studie)

Aus diesem Grund hat eine Gruppe von Wissenschaftlern 2003 die Kanadischen Konsenskriterien entwickelt, aus denen 2011 die Internationalen Konsenskriterien hervorgingen (siehe auch: Kanadische Konsenskriterien (Diagnosekriterien)).

Leider waren die beschriebenen Tendenzen zur Psychiatrisierung, Psychologiesierung und das Bagatellisieren der neurimmunologischen Multisystemerkrankung ME/CFS so stark, dass sie eine evidenzbasierte Erforschung der von der WHO schon 1969 als neurologisch klassifizierten Erkrankung gebremst und blockiert haben - immer wieder zum Schaden der Betroffenen.

Das Stigmatisieren der Kranken und das Ignorieren, Umgehen und Verleugnen der Krankheit, was auch in der Long-COVID-Debatte wieder beobachtbar ist (siehe auch: Long-Covid und ME/CFS), ist einer der zentralen Gründe dafür, - dass diese Krankheit weithin unbekannt ist, - dass falsch mit ihr umgegangen wird, - dass Unterstützung und Versorgung fehlen und - dass eine Erforschung der Krankheit in Deutschland fast nicht stattfindet.

  1. Myalgische Enzephalomyelitis (ME), Abschnitt "Historisches", Millions Missing Deutschland.
  2. Ramsey et al (1955), An Outbreak of Encephalomyelitis in the Royal Free Hospital Group, Br Med J 1957;2:895,DOI: 10.1136/bmj.2.5050.895,
    zitiert nach: www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/, Abschnitt "Verschiedene Bezeichnungen für ME/CFS".
  3. Melvin Ramsay (1965), Hysteria and "Royal Free Desease", Br Med J 1965;2, DOI: 10.1136/bmj.2.5469.1062-a,
    zitiert nach: 5.i. (K. Voss: ME...), S. 11.
  4. ME/CFS Namensentwicklung, ME-CFS Portal.
  5. Vgl.:
    i. Katharina Voss, ME - Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom - Fakten, Hintergründe, Forschung, tredition GmbH Hamburg 2017, ISBN: 978-3743924949, S. 26 ff;
    ii. ME/CFS Geschichte, ME-CFS Portal;
    iii. Siehe 1. (Millions Missing: ME).
  6. Siehe 5.i. (K. Voss: ME...), S.12.
  7. Siehe dazu die Liste der Clusterausbrüche der „National Alliance for Myalgic Encephalomyelitis“ auf http://name-us.org/ResearchPages/ResEpidemic.htm#M.E._Epidemics
    zitiert nach: 5.i. (K. Voss: ME...), S. 61,
    Linkaufruf nachträglich auf die Wayback Machine abgeändert, da die Seite aktuell nicht mehr online ist (August 2021).
  8. Siehe 5.i. (K. Voss: ME...), S. 12.
  9. i. Siehe 5.i. (K. Voss: ME...), S. 14, 15;
    ii. Siehe 4. (ME-CFS Portal: ME/CFS Namensentwicklung).
  10. Buchwald D, Cheney PR, Petersen DL, Henry B, Wormsley SB, Geiger A, Ablashi DV, Salahuddin SZ, Saxinger C, Biddle R et al. (1992), A chronic illness characterized by fatigue, neurologic and immunologic disorders, and active human herpesvirus type 6 infection, Ann Intern Med. 1992 Jan 15;116(2):103-13, DOI: 10.7326/0003-4819-116-2-103;
    zitiert nach: 5.i. (K. Voss: ME...), S. 18.
  11. Primetime Live (1996), CFS and the CDC's Failure to Respond, Min 4:22, www.youtube.com/watch?v=AW0x9_Q8qbo&t=4m22s (Abruf 24.02.17),
    zitiert nach: 5.i. (K. Voss: ME...), S. 18.
  12. Holmes, Gary P. et al. The 1988 Holmes Definition for CFS Chronic Fatigue Syndrome: A Working Case Definition, Ann Intern Med. 1988, http://www.cfids-me.org/holmes1988.html, DOI: 10.7326/0003-4819-108-3-387,
    zitiert nach: 5.i. (K. Voss: ME...), S. 18.
  13. Institute of Medicine (2015), Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, Washington, DC: National Academies Press, DOI: 10.17226/19012,
    zitiert nach: www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/.

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